OMMO WILLE /ZWISCHENZEIT/1988-1995
 Potsdamer Platz 1Potsdamer Platz 2Potsdamer Platz 3Potsdamer Platz 4Potsdamer Platz 5Potsdamer Platz 6Potsdamer Platz 7Potsdamer Platz 8Potsdamer Platz 9Potsdamer Platz 10 Palast der Republik 1Palast der Republik 2Palast der Republik 3 Grenzübergang Marienborn 1Grenzübergang Marienborn 2Grenzübergang Marienborn 3Grenzübergang Marienborn 4Grenzübergang Marienborn 5Grenzübergang Marienborn 6Grenzübergang Marienborn 7Grenzübergang Marienborn 8 Lehrter Bahnhof 1Lehrter Bahnhof 2Lehrter Bahnhof 3Lehrter Bahnhof 4Lehrter Bahnhof 5Lehrter Bahnhof 6 Russen 1Russen 2Russen 3Russen 4Russen 5
Grenzland

Begleittext anlässlich der Ausstellung im Braunschweiger Landesmuseum



286 KB

286 KB

Jahrzehnte träumte das Grenzland vor sich hin, hier stießen West-Welt und Ost-Welt aneinander. Dörfer und Landschaften in verlangsamter Zeit, und eine eigenartige Melancholie durchzog den Landstrich.
Wende und Wiedervereinigung haben die Region aus ihrer Randlage gerissen, sie ist jetzt "mitten in Deutschland" - eine Transitregion auf der noch nicht vernarbten Wunde zwischen Ost und West, mitgerissen von den hastigen Strukturbrüchen im Osten. Allmählich wandelt sich das Grenzland, bekommt ein neues Gesicht.
Das Braunschweigische Landesmuseum versucht in dieser Ausstellung mit Momentaufnahmen diesem zeitgeschichtlichen Prozess auf der Spur zu bleiben, ihn sichtbar zu machen, festzuhalten, zu dokumentieren. Auch Ommo Willes Fotos verstehen sich als ein Beitrag dazu und machen die rasche Entwicklung aus der Perspektive des Künstlers sichtbar.



Grenztürme - einstmals in einer über 1000 km langen, undurchdringlichen Kette entlang der deutsch - deutschen Grenze waren der sichtbare Ausdruck eines hermetisch abgeriegelten Staates, Zeugen einer uns martialisch anmutenden Mächtigkeit, unheimlich, furchteinflößend.
Die wenigen Türme, die die Zerstörungswut der ersten Wendemonate überlebt haben, überragen heute einsam den zugewachsenen Todesstreifen, verlassen von den strengen Wächtern mit "Kampfauftrag zum Schutz der DDR - Grenze". Solchermaßen vereinsamt wirken sie nur noch banal, aber als Überrest einer einst politisch angespannten Geschichte mitten in Deutschland.



Wer Bilder vergangener Lebenswelt der eingeschnürten DDR-Gesellschaft, Zeugen diktatorischer Macht, Symbole einer versteinerten Ideologie oder die Überbleibsel militärischer Maschinerie vor dem Vergessen bewahren möchte, muss sich beeilen. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Ommo Wille hat sich gleich nach der Wende auf diesen Wettlauf eingelassen, um mit wachem Auge und einer eigenwilligen Kamera, die dem menschlichen Blickfeld nachempfunden ist und Fotos mit einem Winkel von fast 180 Grad erlaubt, Spuren zu sichern, ein Stück deutscher Geschichte festzuhalten, das in rasender Fahrt aus der bildhaften Erinnerung zu entfliehen droht.
Es ist nicht jedoch der Blick des aktuellen Fotoreporters, der sich hier in Fotos sichtbar macht, nicht der des Historikers, der systematisch Dörfer, Gebäude, Landschaften erfasst, nicht der des Foto-Dokumentaristen, der Lebensformen von Menschen vorführt, porträtiert, typisiert. Vielmehr ist es der Blick, der dem scheinbar Nebensächlichen, dem Marginalen und dem Banalen eine Bedeutung abgewinnt, die trotz der häufigen Strenge des Bildaufbaus assoziativ auf eine ganze Sphäre der versunkenen oder schwindenden Zeit verweist. Räume und Objekte der einst peniblen Macht - jetzt starren sie uns in kühler Leere an. Wir müssen das frühere Leben in ihnen in unserer Vorstellung zurückholen, wenn wir zur Substanz der Bilder vordringen wollen. Wer niemals die Räume der DDR-Staatsmacht erlebt hat, wer keinen Einblick hatte in das so andere Leben, dem mag es wohl schwerfallen, die Bedeutung mancher Bilder zu ermessen.



Alles ist uns noch so gegenwärtig und doch schon so weit weg. Die "Nachwende-Zeit" entfaltet ihren eigenen Charakter, eine eigentümliche Atmosphäre, in der das Alte noch nachwirkt, oft nur noch als stummer Zeuge herumsteht, überflüssig, zur Verrottung oder zum Abräumen für das Neue preisgegeben.
Was wird mit den Grenzanlagen, was mit den russischen Kasernen, mit den LPGs, deren Stallungen jetzt trostlos in die Gegend schauen? Was wird aus den einstigen Zentralen der Macht, was aus den einstigen Kulturhäusern, HO-Läden? Was geschieht mit den meist bombastischen Denkmälern politischer Helden von einst? Die Antworten haben sich schon in die Zeit des Transitorischen, des Wartens, der Ratlosigkeit, der Hoffnungslosigkeit und des Neubeginns hineingefressen.
Blinde Wut oder Stumpfheit vor der Geschichte anstatt Bewahren des Gedächtnisses haben vieles ausgelöscht. Verhasste Symbole mußten schnell verschwinden, Denkmäler fielen, Straßennamen wurden flugs geändert, Grenzanlagen niedergerissen, Wachtürme gesprengt, Gebäude vandalisch zugerichtet. Aber die neue West-Zeit setzte ebenso schnell ihre markanten Zeichen in manche verschlafene Ländlichkeit, in die Städte sowieso.



Die Insignien der neuen Mächtigkeit sind lockende Werberufe des Konsums, sind "die Freiheit des Genießens","Go West", Coca-Cola" und westliche Brauereien, die generalstabsmäßig die unscheinbarsten Dorfkneipen bis zur Oder mit West-Bier versorgen und ihre Leuchtreklamen vor die häufig noch bröckeligen Fassaden setzen, als würden sie sagen wollen: hier beginnt die neue Zeit.
Einige hundert Meter nebenan der Autobahnkontrollpunkt Marienborn. Geisterhaft und entmachtet. Aber die Bilder holen Beklemmung und Schrecken wieder hervor. Amtsstuben mit kläglichem Interieur. Hier mussten Millionen Menschen warten, schwitzen, zittern. Hinter kleinmustrigen Vorhängen und spießigen Gardinen die kleinen und großen Befehlsgeber mit oft sächselndem Singsang in der Stimme, für Augenblicke Herren über unsere Ausweise, geheimnisvolles Warten, dann unser Ausweis zurück aus einem obskuren Schlitz in der Wand.



Jetzt liegt diese Grenzstation, die uns so in Angst zu versetzen vermochte, ganz einsam und verlassen in der Landschaft. Das buchstäbliche Gras wächst darüber. In einigen Gebäuden hat sich Wut in exstatischer Zerstörung entladen. In Dreilinden bei Berlin sind fast schon bizarre ästhetische Räume entstanden, - kleine späte Triumpfe über diese Symbolräume einer auf Ordnungsrituale eingeschworenen Staatsmacht. Graffiti-Gesichter heute auf dem Grenzgebäude der DDR-Staatsbank grinsen wie zum nachträglichen Hohn auf diesen Ort strengster Ordnung, eiserner Vorschriften und deutscher Perfektion. Die eigenartige Melancholie der Bilder ist eine der Erinnerungen der historischen Zeit, keine der Wehmut oder der Sehnsucht zurück. Sie verweist zugleich auch auf den historischen Schnitt, der nur noch ein Nachvornegehen zulässt, ohne sich von der Erinnerung abzukoppeln.



Ein ehemaliger riesiger Gutshof in Harbke, hart an der ehemaligen Grenze, nur wenige Kilometer vor Helmstedt, seit DDR-Zeiten eine LPG. Ein riesiger Gebäudekomplex, der sich als Oval um einen großen Innenhof schmiegt. Außen fließt ein idyllischer Burggraben, auf dem Enten dümpeln. Wer neugierig einen Blick in das Hofinnere wagt, blickt gebannt auf ein trostloses Ensemble. Jahrhunderte alte Gebäude, die Geschichte ausstrahlen, entbieten einen Anblick wie nach Kriegszerstörung. Eingefallene Dächer, zusammengefallene Wände, eingestürzte Decken. Die Fäulnis frisst sich allmählich bis zum letzten intakten Gebäudeteil durch, in den die LPG-Bauern sich offenbar mit ihrem Versammlungsraum geflüchtet haben. Zur rechten einige neue Gebäude, die der LPG zum Wirtschaften dienen. Zeitweilig seien auch Schweine im großen Gutssaal gehalten worden, meint einer der LPG-Bauern. Fassungslos fragt sich der Besucher, wie ein solcher Umgang mit historischen Gebäuden durch die Jahre zu ertragen war. Einfache Antworten hört man. Dachrinnen habe es lange keine gegeben, da sei das Wasser dann ins Gebäude gedrungen und nach und nach seien Dach und Decken eingefallen.
Szenerien aus dem Grenzland der versunkenen DDR hat Ommo Wille hier in Ausschnitten seiner unzähligen Beobachtungen zusammengetragen. Es sind Fotos gegen das Vergessen, ein Wettlauf gegen die Bulldozer der Abwicklungsstrategen, aber auch gegen unbedachte Modernisierung, gegen das Auslöschen von Geschichtlichkeit. Ein Nachdenken über das Nachvibrieren von Geschichte ...

Eckhart Bauer

OMMO WILLE | ZWISCHENZEIT | 1989 - 1995    1-2-3-4-5-6-7-8-9-10 | 1-2-3 | 1-2-3-4-5-6-7-8 | 1-2-3-4-5-6 | 1-2-3-4-5 | Text | Info